Ansprache zur Stolpersteinverlegung und Besuch der Familie Ibson

Nachfolgend die Ansprache zur Stolpersteinverlegung für Familie Katz am Dienstag, den 17. März 2015:

„Der Mob zieht durch die Straßen der Stadt.
Rassistische Parolen erklingen.
Man feiert sich und ein neues Deutschland.
Steine, Wegplatten und Gullideckel fliegen.
Fensterscheiben zerbersten.
Eigentum wird verwüstet.

Am 28. März 1933 steht Ludolf Katz vor dem Geschäft seiner Eltern. Vielleicht steht er exakt an dem Ort, an dem sich die Stolpersteine seiner Familie nun befinden.

Er will die Übergriffe fotografisch festhalten, will bei den Behörden sein Recht als freier Bürger der Stadt einfordern. Ein Recht, welches die Juden zu diesem Zeitpunkt faktisch bereits verloren haben.

Hier, vor der Groner Straße 9, wird er von Angehörigen der SA angegriffen, verfolgt und in einem Hinterhof zusammengeschlagen. Später wird man behaupten, er habe den marodierenden Mob provoziert. Es ist der Beginn einer schlimmen Zeit für die Göttinger Juden, für die Familie Katz …

Liebe Anwesende, liebe Angehörige der Familie Ibson,

als sich die Supporters Crew 05, der Fandachverband des 1. SC Göttingen 05, der Aufbereitung der jüdischen Geschichte von 05 annahm, geschah dies, um dem Vergessen zu begegnen. Ludolf Katz, der 15 Jahre lang Mitglied des Vereins war, und seiner Familie gilt hier und heute unser Gedenken:

Ludolfs Vater war Leopold Katz. Der 1875, in Alsfeld geborene Geschäftsmann, arbeitete in seiner Geburtsstadt im Manufakturwarengeschäft seines Vaters.

Ludolfs Mutter war Mathilde Apt. Sie wurde 1878 in Niederaula, als ältestes von sechs Mädchen geboren. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebte und arbeitete sie im Textilgeschäft ihrer Tante in Geismar.

Mathildes Schwester Fanny war es, die die beiden zusammen brachte.

1902, nach Leopolds Militärausbildung, heirateten sie und zogen nach Göttingen.
Hier übernahmen sie das Manufaktur- und Textilgeschäft von Leopolds Verwandten in der Groner Str. 11.

1903 kam ihr Sohn Ludolf auf die Welt.

In den folgenden Jahrzehnten erweiterte das Ehepaar die Geschäftsräume auch auf die Häuser mit der Nummer 10 und 9. Die 1905 erworbene Nummer 9 wurde zum ständigen Wohnhaus der Familie.

1911 wurde Ludolfs Schwester Rosa geboren.
Sie erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung.
Dank der Hilfe eines Göttinger Spezialisten wirkte sich die Polio nur als leichte Behinderung aus. Sie schränkte die aktive Frau zeitlebens kaum ein.

Für die Mutter war es jedoch eine schwere Zeit, denn sie führte während des Ersten Weltkriegs das Geschäft alleine.
Leopold Katz diente vier Jahre im deutschen Heer.

Mit dem Ende des Kriegs ging es in der Groner Straße stetig aufwärts.
Das Haus mit der Nummer 9 brummte vor Geschäftigkeit.
Das Ehepaar Katz lebte hier nicht nur mit seinen Kindern, sondern beherbergte auch zahlreiche Lehrlinge.
Nach Ladenschluss wurde über Abrechnungen und Textilwaren gewerkelt und nicht selten sang Mathilde Katz mit schöner Stimme zur Zither.

Ludolf besuchte das Realgymnasium, das heutige Felix-Klein-Gymnasium.
Rosa ging auf das Lyzeum, das heutige Hainberg-Gymnasium.

Rosa hatte die musikalische Ader ihrer Mutter geerbt und studierte nach ihrer Schulzeit Musik in Kassel.
Später bestritt sie ihren Lebensunterhalt mit Klavierunterricht.

Ludolf stieg in die Fußstapfen seiner Eltern und arbeitete bald im Göttinger Geschäft, bald in anderen Städten. Seine Leidenschaft galt dem Sport. Neben Tennis und Kegeln, widmete er sich insbesondere dem 1. Göttinger Sportklub von 1905. Außerdem leitete er den jüdischen Jugendverein der Stadt.

Drei Jahrzehnte lang war die Familie Katz ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen und kaufmännischen Wirkens in Göttingen.
Leopold und Mathilde pflegten Freundschaften zu nichtjüdischen Familien und nahmen als Theaterabonnenten am kulturellen Leben der Stadt teil.

Doch über diese guten Jahre legte sich ein Schatten.
Antijüdische Stimmung machte sich in Göttingen breit. Die Stadt der Studentenbünde war ein Brutherd der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus.

Mit der Machtergreifung wurde den Juden in Göttingen nach und nach der Zugang zum gesellschaftlichen Leben abgeschnürt.
Ablehnung, Hass und Gewalt machten das Alltägliche zur Tortur.

Als er vom SA-Mob zusammen geschlagen wurde, war Ludolf Katz 29 Jahre alt.

Seine Familie war eine deutsche Familie.
Sein Vater war für Deutschland in den Krieg gezogen.
Seine Mutter, seine Schwester und er hatten sich weit über das normale Maß in Göttingen engagiert.
Nichts von alledem zählte mehr.

Lange Zeit kämpfte die Familie darum, ihr gesellschaftliches Ansehen zu wahren. Ein hoffnungsloser Kampf, denn die Stadt und ihre Bürger brachten ihnen weder Respekt entgegen, noch ließen sie ihnen ihre Würde.

Die Kinder von Leopold und Mathilde erkannten die fatale Entwicklung.
Rosa Katz wanderte im Februar 1937 in die USA aus.
Dort heiratete sie den deutsch-jüdischen Emigranten Kurt Ibson.
Ihr Bruder Ludolf folgte mit seiner Frau Reneé, im Oktober 1938, nach.

Die Eltern blieben in Göttingen.
Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie ihrer Existenz beraubt werden sollten.
Alles was sie hatten, was sie waren, verbanden sie mit dieser Stadt, mit dieser Straße, mit diesem Haus.

Nur wenige Tage nach Ludolfs Emigration wurde in der Pogromnacht das Wohneigentum der Familie zerstört.
Später wurde das Ladeninventar an nichtjüdische Geschäfte verteilt.

Leopold Katz verkaufte als einer der letzten Göttinger Juden sein Geschäft zu einem Spottpreis. Das Ehepaar musste beim neuen Eigentümer zur Miete leben.

Rose und Ludolf versuchten verzweifelt sie aus dem Land zu bekommen. Doch es war zu spät. Als die Schiffstickets sie erreichten, herrschte Krieg und sie durften das Deutsche Reich nicht mehr verlassen.

Mathilde und Leopold Katz wurden am 26. März 1942 über Trawniki ins Warschauer Ghetto deportiert. Von dort schrieb Leopold seinen Kinder noch vom Tod ihrer Mutter durch Typhus. Er selbst blieb verschollen.

Ludolf Katz starb am 14. August 1994 in Sarasota, Florida mit 91 Jahren.
Seine Schwester Rose starb am 17. Februar 2013 in Rockville, Maryland im Alter von 100 und einem Jahr.

Als wir vor einem Jahr zu forschen begann, waren es Ludolfs Briefe, die einen Faden zur jüdischen Vergangenheit unseres Vereins woben. Ein Faden, der sich auch mit anderen Namen verbindet und schließlich zur Groner Straße 9 zurück führte:

Wir wollen heute auch des Kaufmannslehrlings Julius Löwenstein gedenken.
Er arbeitete und lebte hier im Geschäftshaus des Ehepaares Katz.
Julius Löwenstein wurde 1897 in Banteln geboren und entfloh mit seiner Frau dem nationalsozialistischen Terror nach Argentinien.
Dort starb er am 17. Juli 1985 in Buenos Aires.
Er erzählte seinen Kindern nie von Göttingen.
Das erlebte Grauen ließ ihn verstummen.

Für uns, von der Supporters Crew 05, sind diese Stolpersteine nicht nur Gedenken, sondern auch eine Mahnung an gegenwärtige und kommende Generationen:

„Bleibt wachsam, steht auf und ruft: „Nie wieder!““

Familie Ibson besuchte anschließend unseren FanRaum, an dem sich die Gedenktafel für Ludolf Katz befindet.

One thought on “Ansprache zur Stolpersteinverlegung und Besuch der Familie Ibson”

Comments are closed.